Europäische Interessenpolitik im Weltfußball
Von Christiane Eisenberg
Der moderne Fußball entwickelte sich zuerst in Europa, verbreitete sich jedoch schon vor 1914 auch nach Übersee und wird heute in allen Ländern der Erde gespielt. Der europäische Fußball gewann vor dem Hintergrund dieses Verbreitungserfolgs auf zweifache Weise an Profil: zum einen durch die zunehmende Intensität des sportlichen Austausches innerhalb Europas, zum anderen durch die Verteidigung der sportlichen und sportpolitischen Vorherrschaft gegenüber den außereuropäischen Neulingen. In der nachfolgend abgedruckten Stellungnahme des italienischen Fußballfunktionärs Ottorino Barassi in der italienischen Sportzeitschrift „Calcio“ aus dem Jahre 1960 kommt diese zweite Dimension des europäischen Fußballs zum Ausdruck. Ingenieur Dr. Ottorino Barassi (1898-1971) war ein verdienter Fußballfunktionär. 1960 avancierte er zu einem von mehreren Vizepräsidenten der Fédération Internationale de Football Association (FIFA). Besondere Meriten hatte Barassi sich als Organisator der zweiten Fußball-Weltmeisterschaft in Italien 1934 und als Präsident der Federazione Italiano Giuoco Calcio (1946-1958), des italienischen Fußballverbandes, erworben. Darüber hinaus gilt er als einer der „Väter“ der 1954 gegründeten Union des Associations Européennes de Football (UEFA), in der er ebenfalls hohe Ämter innehatte.
Als Advokat des europäischen Fußballs tritt uns Barassi auch in dieser Quelle entgegen. Worum geht es konkret? Auf den ersten Blick scheinen es organisatorische Fragen des Verhältnisses von FIFA und UEFA zu sein, die Barassi Sorge bereiten. Die
FIFA sei zu groß und schwerfällig geworden. Daher solle die Entscheidungsfindung innerhalb des Verbands künftig dezentralisiert und mithilfe der sogenannten Konföderationen für die einzelnen Fußball-Kontinente erfolgen, von denen im Jahr 1960 bereits vier bestanden: die Confederación Sudamericana de Fútbol (CONMEBOL, gegr. 1916), die UEFA (gegr. 1954), die Asian Football Confederation (AFC, gegr. 1954) und die Confédération Africaine de Football (CAF, gegr. 1957).Bei näherem Hinsehen ging es Barassi jedoch um etwas anderes: Er wollte das Abstimmungsprinzip in der FIFA verändern. Nur noch auf der Ebene der Konföderationen sollten die Mitgliedsverbände nach dem gleichen Stimmrecht abstimmen dürfen. In der FIFA sollten sie sich nur noch indirekt, eben über die Konföderationen, Gehör verschaffen können. Diese Forderung war, wie die Quelle belegt, explizit gegen die jungen afrikanischen und asiatischen Mitgliedsverbände gerichtet. Wenn eine entsprechende Statutenänderung auf der FIFA-Generalversammlung nicht erfolge, werde sich Europa im Weltfußball verselbständigen und seine eigene internationale Meisterschaft ausrichten, drohte Barassi – was im Jahr 1960 durchaus ernst zu nehmen war. Denn die UEFA hatte 1958 mit dem Europäischen Nationen-Pokal, der späteren Fußball-Europameisterschaft, bereits einen entsprechenden Wettbewerb ins Leben gerufen; das erste Endspiel fand 1960 statt. Als weiteres Novum wurde 1960 erstmals ein Europa/Südamerika-Pokal ausgetragen.
Um Barassis Initiative zu verstehen, muss man sich die Entwicklung des Weltfußballs nach 1945 vergegenwärtigen. Die FIFA, im Jahr 1904 von einigen für den internationalen Fußball begeisterten jungen Leuten aus West-, Nord- und Mitteleuropa gegründet, war zu einer weltumspannenden Organisation herangewachsen und verfügte mittlerweile über so viele nationale Mitgliedsverbände, dass das ursprüngliche Abstimmungsverfahren nach dem Prinzip „one association, one vote“ in der Tat sehr aufwendig geworden war. Dieses Organisationswachstum erfolgte besonders rapide unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich das Nationalstaatsprinzip auf der Erde verallgemeinerte. Aus mehr als hundert ehemaligen Kolonien, Teilterritorien von Großstaaten und vielfältigen anderen politischen Gemeinwesen wurden nun in rascher Abfolge unabhängige Nationalstaaten, und für viele von ihnen gehörte die Mitgliedschaft in der FIFA zu den unverzichtbaren Insignien der Souveränität, ähnlich wie die Nationalflagge, die eigene Währung oder der eigene Postdienst.Wie die nachfolgende Tabelle zeigt, wuchs die FIFA-Mitgliedschaft bis Mitte der 1960er Jahre um mehr als 100 Prozent, das heißt in dem 20-jährigen Zeitraum 1945-1964 entwickelte sich der Weltfußballverband doppelt so schnell wie 1904-1944, den ersten vierzig Jahren seiner Existenz.
Die Entwicklung ging auf Kosten der europäischen Fußballverbände. Denn sie führte dazu, dass der Anteil der europäischen Verbände an der Gesamtmitgliedschaft der FIFA zwischen 1945 und 1955 von 54 Prozent auf 42 Prozent sank. Mit der Dekolonisierung Afrikas und Asiens setzte sich der Trend fort. Allein 31 von 43 neuen Mitgliedern, die dem Weltfußballverband im Jahrzehnt nach 1957 beitraten, repräsentierten den afrikanischen Kontinent.
Zeitraum | Neuzugänge | Anzahl der Mitglieder am Ende des Zeitraums | Wachstum seit 1945 |
1904-1944 | 60 | 60 | |
1945-1949 | 8 | 68 | + 33 % |
1950-1954 | 12 | 80 | + 50 % |
1955-1959 | 11 | 91 | |
1960-1964 | 32 | 123 | + 103 % |
Insbesondere die südamerikanischen Delegierten, deren Länder im Fußball nach dem Zweiten Weltkrieg auch auf dem grünen Rasen klar dominierten (im WM-Endspiel 1950 hatte sich Uruguay und Brasilien gegenüber gestanden), wussten bei den FIFA-Generalversammlungen diese Situation für sich zu nutzen, indem sie Blockabstimmungen mit den Afrikanern oder Asiaten organisierten. Diese Erfahrung der Majorisierung war für manch einen Europäer in der FIFA und so auch für Barassi bitter, zumal die von den afrikanischen und asiatischen Delegierten vertretenen Verbände in der Regel Papiertiger waren. Eine spätere Erhebung der FIFA aus dem Jahr 1970 sollte jedenfalls unterstreichen, dass sein Vorschlag, die Stimmen der FIFA-Mitgliedsverbände unterschiedlich zu gewichten, nicht einem diffusen Ressentiment gegen den „schwarzen“ und den „gelben Kontinent“ entsprang, sondern durchaus begründet war. Obwohl die afrikanische Konföderation zu diesem Zeitpunkt 28 Prozent aller registrierten Fußballverbände auf der Welt umfasste, entfielen auf sie nämlich nur 3 Prozent der Teams und Spieler. Bei der asiatischen Konföderationen und den mittlerweile hinzugekommenen Organisationen für die Karibik und Ozeanien sah es nicht anders aus.
Was wurde aus Barassis Initiative? Sie scheiterte auf der ganzen Linie, so muss man aus der historischen Rückschau feststellen. Schon seine erste Forderung, Entscheidungskompetenzen an die Konföderationen zu verlagern, war im Jahr 1960 wenig originell und dürfte bei den meisten seiner Funktionärskollegen in der FIFA auf Ablehnung gestoßen sein.Zwar konnten die Konföderationen in der Tat bei der Entscheidungsfindung entlastend wirken, wie Barassi zu Recht hervorhob; darüber hinaus dienten sie als Clearing-Stellen für die Konfliktregulierung im Weltfußball. Aber die Konföderationen verstanden sich auch als regionale Interessenorganisationen und versuchten daher, mit Hilfe inter-konföderaler Koalitionen ihre speziellen Anliegen durchzusetzen.Dementsprechend waren bereits in den 1950er Jahren in der FIFA-Spitze immer wieder Befürchtungen geäußert worden, dass die fortschreitende Regionalisierung des Weltfußballs zentrifugale Tendenzen befördern werde.
Auch der Vorschlag, das gleiche Stimmrecht auf der FIFA-Generalversammlung abzuschaffen und die Stimmen der jungen und mitgliederschwachen Verbände aus Afrika und Asien geringer zu gewichten als die der altehrwürdigen europäischen, fand in der FIFA wenig Resonanz. Hier hätte nur die Generalversammlung selber das Stimmrecht ändern können, und dort waren eben diese jungen und mitgliederschwachen Verbände in der Mehrheit. Wenig überraschend blieben auch spätere Vorstöße anderer Einzelpersonen ebenso wie die der UEFA gänzlich erfolglos.Längerfristig gesehen, wuchs die Mehrheit für das Prinzip „one association, one vote“ sogar Jahr für Jahr an, weil immer mehr der mittlerweile mehr als 200 FIFA-Mitgliedsorganisationen zu den kleinen und kleinsten Verbänden gehörten. Schließlich verschwand auch das Drohpotential eines internationalen europäischen Fußballturniers, was das Scheitern der europäischen Interessenpolitik nochmals belegt. Die UEFA-Europameisterschaft vermochte sich niemals zu einer Konkurrenz der FIFA-Weltmeisterschaft zu entwickeln. Die Durchführung des Turniers zwischen zwei Weltmeisterschaften begründete vielmehr eine friedliche Koexistenz.
Barassis Initiative von 1960 wirft mithin ein Schlaglicht auf die durchweg schwache Position der europäischen Interessen in der FIFA nach dem Zweiten Weltkrieg.Sie erhellt zugleich das strukturelle Entwicklungsproblem der Weltfußballorganisation: Wenn die FIFA tatsächlich eine globale Organisation sein und die Interessen aller ihrer Mitglieder gleichermaßen berücksichtigen wollte, so durfte sie ihren wichtigsten Stützen, den europäischen Fußballverbänden, keine Sonderkonditionen gewähren.
In manchen Situationen musste – und muss – sie die europäischen Interessen sogar systematisch verletzen, um den Fußball auf globaler Ebene zu fördern. Das ist heute regelmäßig dann der Fall, wenn es um die Verteilung der Milliardeneinnahmen aus dem Verkauf von Fernsehrechten für die Weltmeisterschaft geht. Der Großteil dieser enormen Summen stammt aus Europa. Zu den Nutznießern gehören jedoch überwiegend die kleinen und armen Fußball-Länder Afrikas und Asiens, denn die Gesamtsumme wird zu gleichen Teilen an alle Mitgliedsverbände verteilt. Während diese Geldspritzen für die reichen europäischen Verbände, salopp formuliert, einen Zuschuss für die Portokasse bedeuten, sind sie für die kleinen und armen Verbände eine unverzichtbare Fußball-Entwicklungshilfe. Die Gelder sind umso willkommener, als die Verantwortlichen vor Ort entscheiden dürfen, wofür sie verwandt werden sollen.
Diese Umverteilungspolitik wird von den europäischen Fußballverbänden und ihrer Interessenorganisation, der UEFA, genauso wenig goutiert wie seinerzeit das gleiche Stimmrecht der Afrikaner und Asiaten von Barassi. Allerdings hört man in Reaktion darauf nicht mehr die Forderung nach einer ungleichen Stimmengewichtung der Nehmerländer aus Afrika, Asien und anderen, aus europäischer Perspektive entlegen erscheinenden Gegenden der Welt. Angesichts der gewachsenen Sensibilität für globale Ungleichgewichte sind solche Forderungen in der europäischen Öffentlichkeit, zunehmend auch bei politisch aufgeklärten Fußballfunktionären offenbar nicht mehr akzeptabel; sie verbieten sich aus Gründen der Vernunft und der „political correctness“. Dennoch bleibt zu fragen, ob nicht Barassis Vorschläge schon seit längerem gewissermaßen im neuen Gewand daherkommen. Gemeint sind die in der europäischen Presse breit erörterten Korruptionsvorwürfe gegen die beiden jüngsten FIFA-Präsidenten, den Brasilianer João Havelange (1974-1998) und den Schweizer Joseph S. Blatter (seit 1998).Beide haben die globale Ausrichtung und die Umverteilungspolitik der FIFA seit den 1970er Jahren dezidiert vertreten. Beide wurden in einen Abwehrkampf gegen Anfeindungen verstrickt, die von Vertretern der europäischen Fußballinteressen ausgingen. In beiden Fällen haben sich die Korruptionsvorwürfe als unbegründet erwiesen. Daher spricht einiges für die Interpretation, sie als funktionales Äquivalent der nicht mehr durchsetzbaren Forderung nach einer größeren Gewichtung der europäischen Stimmen im Weltfußball zu betrachten. So gesehen, wären diese Vorwürfe ein moralisch verbrämtes „Foul“ infolge der gescheiterten europäischen Interessenpolitik.
[1] Essay zur Quelle Nr. 4.7, Ottorino Barassi: Die Weltorganisation bedarf dringend der Modernisierung (1960).
[2] Dr. Ottorino Barassi (Ing.) war 1960 Vizepräsident der Fédération Internationale de Football Association (FIFA) Vizepräsident der Federazione Italiana Giuoco Calcio (FIGC); zu weiteren Lebensdaten vgl. den Nachruf auf Barassi in: FIFA News Nr. 103, Dezember 1971; Barassi, Ottorino, Coppa del Mondo. Cronistoria del campionato mondiale di calcio, Rom 1934; Ghirelli, Antonio, Storia del calcio in Italia, Turin 1990, Kap. 5; mit Bezug auf die „Vaterschaft“ an der UEFA: Schreiben von Sir Stanley Rous an Helmut Käser vom 28.8.1953, in: FIFA-Archiv Zürich, Box Individual ExCo Members, Folder Sir Stanley Rous.
[3] Die Confederation of North, Central American and Caribbean Association Football (CONCACAF) entstand 1961, die Oceania Football Confederation (OFC) 1966.
[4] Vgl. Meyer, John W.; Boli, John; Thomas, George M.; Ramirez, Francisco O., World society and the nation state, in: American Journal of Sociology 103 (1997), S. 144-181. Die FIFA akzeptierte in Ausnahmefällen sogar Fußball-Assoziationen aus politisch abhängigen Gemeinwesen, sofern der nationale Mitgliedsverband des Staates, zu dem dieses Gemeinwesen gehörte, die Aufnahme befürwortete und einen entsprechenden Antrag stellte; vgl. FIFA-Archiv Zürich, Minutes of the extraordinary congress held on 14th and 15th November 1953, S. 6-7. Zu den Ländern, die von dieser Regelung profitierten, gehörten Kenia, Lesotho, Mauritius, Nigeria, Sudan, Uganda, Zypern, Malaysia, Singapur und Syrien.
[5] Eigene Berechnungen auf der Basis einer Übersicht (FIFA: Affiliated National Associations – Year of Affiliation), die von Heidrun Homburg für das in Anm. 5 erwähnte FIFA-Projekt erstellt wurde.
[6] Ausgezählt nach einer Übersicht „National Associations – Foundation Year“, die Heidrun Homburg auf der Basis der Daten im FIFA-Archiv angelegt hat. Die Übersicht wurde im Rahmen des Projekts „100 Jahre FIFA“ erstellt, dessen Ergebnisse mittlerweile publiziert sind: Eisenberg, Christiane; Lanfranchi, Pierre; Mason, Tony; Wahl, Alfred, FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball, Göttingen 2004.
[7] Fédération Internationale de Football Association (1972). Report covering the period from June 1970 till June 1972, presented to the FIFA General Congress in Paris, 22. 23. August 1972.
[8] Bezeichnenderweise findet Barassis Artikel im Protokoll der 32. Generalversammlung, an die er verteilt worden war, keine Erwähnung; vgl. FIFA-Archiv Zürich, Bestand XXXIInd Congress.
[9] Die bereits 1916 gegründete CONMEBOL hatte während des Zweiten Weltkriegs, als die Zürcher FIFA-Zentrale weitgehend manövrierunfähig war, sogar versucht, die Weltorganisation zu usurpieren; vgl. Eisenberg u.a. (wie Anm. 5), S. 77.
[10] Vgl. Darby, Paul, Africa, football and FIFA. Politics, colonialism and resistance, London 2002, S. 47ff.
[11] Vgl. dazu Darby, Africa, insb. Kap. 3 u. 6.
[12] Vgl. dazu auch ebd., Kap. 3, sowie Sugden John; Tomlinson, Alan, Global power struggles in world football: FIFA and UEFA, 1954-1974, and their legacy, in: The International Journal of the History of Sport 14 (1997), S. 1-25.
[13] Vgl. Eisenberg u.a. (wie Anm. 5), Kap. 11.
[14] Dazu ausführlich Darby, Paul, Africa, the FIFA presidency and the governance of world football: 1974, 1998 and 2002, in: Moving Bodies, 1, 2003, S. 47-61.
Literaturhinweise:
Darby, Paul,
Africa, football and FIFA. Politics, colonialism and resistance, London 2002
Darby, Paul,
Africa, the FIFA presidency and the governance of world football: 1974, 1998 and 2002, in: Moving Bodies, 1 (2003), S. 47-61
Eisenberg, Christiane; Lanfranchi, Pierre; Mason, Tony; Wahl, Alfred, FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball, Göttingen 2004
Sugden, John; Tomlinson, Alan, Global power struggles in world football: FIFA and UEFA, 1954-1974, and their legacy, in: The International Journal of the History of Sport 14 (1997), S. 1-25
Zugehörige Quellen:
Barassi, Ottorino: Die Weltorganisation bedarf dringend der Modernisierung (1960)
Barassi, Ottorino: The World Organisation Urgently Requires Modernising (1960)